Von Prof. Dr. Mona Massumi (FH Münster)
Problematische Befunde im (Berufs)Bildungssystem
Im Kontext aktueller (Flucht)Migration zeigen sich problematische Befunde mit Blick auf das (Berufs)Bildungssystem: Auf der einen Seite offenbaren Untersuchungen, dass Lehrkräfte an Schulen und Ausbilder*innen in Betrieben häufig überfordert in der Arbeit mit neu zugewanderten Schüler*innen bzw. Auszubildenden sind (vgl. dazu u.a. Scheiermann 2023; Otto et al. 2016). Auf der anderen Seite weisen Befunde der (Berufs)Bildungsforschung seit Jahren eine geringere Bildungsbeteiligung von neu Neuzugewanderten gegenüber Personen hin, die in Deutschland sozialisiert sind: So besuchen neu zugewanderte Schüler*innen häufiger eine Hauptschule (vgl. u.a. Will/Becker/Winkler 2022) und Personen mit eigener Migrationserfahrung verlassen das Bildungssystem überdurchschnittlich häufig ohne einen Schulabschluss oder nur mit einem Hauptschulabschluss (vgl. Autorengruppen Bildungsberichterstattung 2022). Außerdem zeigen Daten, dass Geflüchtete gegenüber Nicht-Geflüchteten deutlich geringere Einstellungschancen für eine betriebliche Ausbildung haben (vgl. BIBB 2023). Wenn Neuzugewanderte den Weg in eine Ausbildung geschafft haben, haben sie – so die Befunde – deutlich stärker mit vorzeitigen Vertragslösungen und erhöhten Ausbildungsabbrüchen zu kämpfen (vgl. ebd.). Auszubildende mit Fluchthintergrund schließen deutlich seltener ihre Ausbildung erfolgreich ab als Auszubildende ohne Fluchthintergrund (vgl. ebd.). Ebenso lässt sich festhalten, dass überproportional viele Personen mit eigener Migrationserfahrung keinen Berufsabschluss erlangen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2022).
Erklärungsmuster
Mit Blick auf die Erklärungsmuster für die Schlechterstellung von Neuzugewanderten/Geflüchteten werden verstärkt defizitäre Perspektiven auf Betroffene eingenommen, da sie z.B. nicht vollumfänglich die deutsche Sprache gelernt oder sich nicht genügend bemüht hätten. Die Probleme von Neuzugewanderten werden damit häufig individualisiert, dies zum Teil mit kulturalisierenden Begründungen rekurrierend auf ihre Herkunft oftmals verbunden mit ihrem Geschlecht und ihrer Religionszugehörigkeit. Dabei weisen die Befunde vielmehr auf strukturelle Unzulänglichkeiten des Bildungssystems hin. Denn es lassen sich stark exkludierende Mechanismen für Neuzugewanderte – insbesondere Geflüchtete – mit Blick auf den Zugang zum (Aus)Bildungssystem identifizieren, z.B. aufgrund aufenthaltsrechtlicher Restriktionen, langwieriger Anerkennungsverfahren, der erforderten deutschen Bildungs- und Fachsprache (vgl. u.a. SVR 2020; Massumi 2019). Diese Hindernisse haben zur Folge, dass die (langfristige) Integration von Geflüchteten in den deutschen Arbeitsmarkt und ihre gesellschaftliche Teilhabe erschwert wird.
Lösungsansatz: Heterogenität leitgebend für pädagogische Handlungen
Um der (migrationsbedingten) Vielfalt im (Berufs)Bildungssystem gerecht zu werden, muss als grundsätzliche Modalität der Pädagogik und Didaktik (und somit auch der Professionalisierung) die Pluralität der Lebenswelten bejaht werden. Das bedeutet, dass in den Rahmenbedingungen des Bildungssystems die Diversität der Lebenslagen und Lebenswelten der Lernenden strukturierend und somit die Ausgangslage sein muss. Erst so kann tatsächlich die Heterogenität der Lernenden pädagogische Handlungen der Lehrenden leiten.
Flexibilisierung von Systemstrukturen
Konkret bedeutet das, dass Bildungsstrukturen überhaupt erst verfügbar sein müssen und es einen Zugang zum (Berufs)Bildungssystem verbunden mit durchlässigen und unterstützenden Strukturen für jede Person geben muss. Dabei ist die ressourcenorientierte Ausrichtung unter Berücksichtigung sozialer Zusammenhänge und die Flexibilisierung von Systemstrukturen unter Berücksichtigung von Lebenslagen grundlegend. Erst mit dieser Perspektive wird es gelingen, das Bildungssystem neu zu denken, indem Lehr- und Lernprozesse an den individuellen Bedarfen, Voraussetzungen und Fähigkeiten ausgerichtet werden. Damit gelingen erfolgreichere Bildungsverläufe und ‑abschlüsse von bisher stark benachteiligten Gruppen, allen voran neu zugewanderten und insbesondere geflüchteten Menschen.
Die Präsentation zur Keynote finden Sie hier
Quellen:
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2022). Bildung in Deutschland 2022. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zum Bildungspersonal. Bielefeld: wbv.
BIBB (2023). Berufsbildungsbericht 2023. Bonn: BIBB.
Massumi, M. (2019). Migration im Schulalter. Systemische Effekte der deutschen Schule und Bewältigungsprozesse migrierter Jugendlicher. Berlin: Peter Lang Verlag.
Otto, J. et al. (2016). Integration neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher ohne Deutschkenntnisse. Möglichkeiten, Herausforderungen und Perspektiven. Münster u. a.: Waxmann
Scheiermann, G. (2022). Integrationsperspektive duales System? Gelingensbedingungen für die Eingliederung geflüchteter in die betriebliche Ausbildung (Band 68). Bielefeld: wbv.
SVR (2020). Heraus aus dem Labyrinth. Jungen Neuzugewanderten in Europa den Weg zur Berufsbildung erleichtern. Berlin.
Will, G., Becker, R. & Winkler, O. (2022). Educational Policies Matter: How Schooling Strategies Influence Refugee Adolescents’ School Participation In Lower Secondary Education in Germany. Frontiers in Sociology 7:842543. Verfügbar unter https://doi.org/10.3389/fsoc.2022.842543 [11.10.2023]