Inter­view mit Dr. Katha­ri­na Weh­king: “Wir müs­sen die Berufs­wahl­mög­lich­kei­ten von jun­gen Geflüch­te­ten stärken“

Katha­ri­na Weh­king arbei­tet an der Uni­ver­si­tät Osna­brück am Insti­tut für Berufs- und Wirt­schafts­päd­ago­gik. In ihrer Dok­tor­ar­beit hat sich Frau Weh­king mit der Fra­ge beschäf­tigt, wie die Berufs­wahl jun­ger Geflüch­te­ter ver­läuft und wel­che Ein­fluss­fak­to­ren dabei auf die jun­gen Men­schen wir­ken. Die ZBS AuF sprach mit Frau Weh­king über die beson­de­ren Her­aus­for­de­run­gen sowie die Gelin­gens­fak­to­ren für die Berufs­wahl von jun­gen Geflüch­te­ten in Deutsch­land. Obwohl die Zah­len zur Arbeits­markt­in­te­gra­ti­on Geflüch­te­ter einen posi­ti­ven Trend auf­wei­sen (s. Text­mel­dung zur IAB-Arbeits­markt­stu­die), mahnt Frau Weh­king eine stär­ke­re Ein­be­zie­hung indi­vi­du­el­ler Inter­es­sen und Nei­gun­gen für eine nach­hal­ti­ge Inte­gra­ti­on in das Berufs­le­ben an.

ZBS AuF II: Frau Weh­king, wo sehen Sie die wesent­li­chen Her­aus­for­de­run­gen für jun­ge Geflüch­te­te bei der Berufswahl?

K. W.: Zunächst ist grund­sätz­lich zu sagen, dass die Per­spek­ti­ve von jun­gen Geflüch­te­ten im Pro­zess der Berufs­wahl sowohl in der Pra­xis als auch in der For­schung oft zu kurz kommt. Wir reden über Geflüch­te­te, aber nicht mit ihnen. Dabei dis­ku­tie­ren wir die Berufs­wahl von jun­gen Geflüch­te­ten in ers­ter Linie unter Nütz­lich­keits­aspek­ten. Ich habe daher in mei­ner Arbeit ver­sucht, die Berufs­wahl aus der Sicht der jun­gen Geflüch­te­ten selbst zu betrach­ten. Zusam­men­fas­send lässt sich sagen, dass neben einer oft­mals unsi­che­ren und pre­kä­ren Auf­ent­halts­si­tua­ti­on sowie den bekann­ten Fak­to­ren Spra­che und Vor­bil­dung auch die Unkennt­nis über das deut­sche Bil­dungs­sys­tem eine wesent­li­che Her­aus­for­de­rung ist. Die Wege in den Beruf — ins­be­son­de­re im Über­gang von der Schu­le in den Beruf — sind so viel­fäl­tig, dass selbst Expert*innen oft Pro­ble­me haben, den Über­blick zu bewah­ren. Nicht umsonst spricht man hier auch vom „Über­gangs­dschun­gel“.

ZBS AuF II: Wie gelingt jun­gen Geflüch­te­ten dann unter die­sen Vor­aus­set­zun­gen die Berufswahl?

K. W.: Ich spre­che in mei­ner Arbeit weni­ger über eine tat­säch­li­che Berufs­wahl als viel­mehr über einen Berufsprag­ma­tis­mus. Denn die Berufs­wahl fin­det oft zeit­nah, situa­tiv und nächst­lie­gend statt. Ver­mit­telt wird häu­fig in Berufs­fel­der, die für ein­hei­mi­sche jun­ge Men­schen unat­trak­tiv sind. In die­sen Berei­chen gibt es eine per­so­nel­le Unter­de­ckung und somit Per­so­nal­be­darf. Ein Bei­spiel ist die Gastronomie.

ZBS AUF II: In die­sem Zusam­men­hang spre­chen Sie in Ihrer Dok­tor­ar­beit auch von der „ambi­va­len­ten Rol­le“ von Prak­ti­ka.K. W.: Rich­tig. Prak­ti­ka sind eine Metho­de, um die Kom­ple­xi­tät des Bil­dungs­sys­tems redu­zie­ren. Bera­tung erfolgt oft nach dem Mot­to: „Haupt­sa­che ein Job oder ein Ausbildungsplatz“.

Vor allem Prak­ti­ka füh­ren oft unmit­tel­bar in eine Beschäf­ti­gung oder ein Aus­bil­dungs­ver­hält­nis. Dies wird in der For­schung auch als „Kle­be­ef­fekt“ bezeich­net. Das soll nicht hei­ßen, dass der Weg über die­se Kle­be­ef­fek­te für den Ein­zel­nen nicht auch genau die rich­ti­ge Ent­schei­dungs­hil­fe sein kann. Fakt ist aber auch: erfolgt die Berufs­wahl rein aus Gele­gen­heits­struk­tu­ren her­aus, ver­la­gern wir die Pro­ble­me ledig­lich auf einen spä­te­ren Zeit­punkt. Hier spielt aber auch das sozia­le Umfeld eine ambi­va­len­te Rol­le. Das sozia­le Umfeld, also Fami­lie, Freun­de und Bekann­te, sind ganz wich­tig für die Berufs­wahl­ent­schei­dung. Bei vie­len Geflüch­te­ten fehlt aber ins­be­son­de­re die Fami­lie als Bezugs­punkt. Aber auch die deut­sche Mehr­heits­ge­sell­schaft kennt sich in der Regel nicht im deut­schen Bil­dungs­sys­tem aus. Wenn also der net­te Nach­bar von neben­an über Kon­tak­te einen Aus­bil­dungs­platz ver­mit­telt, ist damit das Pro­blem der fremd­be­stimm­ten Berufs­wahl noch nicht gelöst.

ZBS AuF II: Was sind also die ent­schei­den­den Bedin­gun­gen, um jun­gen Geflüch­te­ten eine „ech­te“ Berufs­wahl zu ermöglichen?

K. W.: Der ent­schei­den­de Fak­tor ist Zeit. In der For­schung ist bekannt, dass eine fremd­be­stimm­te Berufs- bzw. Aus­bil­dungs­wahl zu Unzu­frie­den­heit füh­ren kann und in der Fol­ge das Risi­ko von Aus­bil­dungs­ab­brü­chen erhöht ist. Wie ich in mei­ner Dok­tor­ar­beit fest­ge­stellt habe, ver­fol­gen vie­le jun­ge Geflüch­te­te durch­aus rea­lis­ti­sche Berufs­wün­sche, auch im Sozi­al- und Gesund­heits­be­reich. Der Beruf Erzieher*in ist hier so ein Bei­spiel. Es ist näm­lich nicht so, dass alle Geflüch­te­te unrea­lis­ti­sche Berufs­vor­stel­lun­gen haben. Pau­scha­le Aus­sa­gen, wie „der Syrer an sich möch­te ger­ne Arzt wer­den“, ärgern mich. Aber blei­ben wir beim Bei­spiel Erzieher*in. Als voll­zeit­schu­li­sche Aus­bil­dung ist die Zugangs­vor­aus­set­zung hier zumin­dest ein mitt­le­rer Schul­ab­schluss. Zu oft bekom­men die jun­gen Men­schen aber nicht die Zeit ihren Schul­ab­schluss nach­zu­ho­len. In vol­ler Här­te betrifft dies natür­lich Per­so­nen mit pre­kä­rem Auf­ent­halt. Ins­ge­samt braucht es also mehr Zeit zum Nach­ho­len von Schul­ab­schlüs­sen. Auch für wei­te­re beschrän­kungs­freie Ange­bo­te der Berufs­ori­en­tie­rung muss mehr Zeit ein­ge­räumt wer­den, denn das Berufs­wahl­spek­trum in Deutsch­land unter­schei­det sich deut­lich von den Mög­lich­kei­ten in den Fluchtherkunftsländern.

Und dies ist die eigent­li­che poli­ti­sche For­de­rung, die wir noch viel stär­ker for­mu­lie­ren soll­ten: Wir müs­sen die Berufs­wahl­mög­lich­kei­ten von jun­gen Geflüch­te­ten stär­ken und mehr Zeit ein­räu­men, um Sprach­kennt­nis­se oder Schul­bil­dung nach­zu­ho­len. 

Die Dok­tor­ar­beit von Frau Weh­king mit dem Titel „Berufs­wahl unter den Bedin­gun­gen von Flucht­mi­gra­ti­on“ erschien in der Rei­he „Inklu­si­on und Bil­dung in Migra­ti­ons­ge­sell­schaf­ten“ im Sprin­ger Verlag.